Stachelige Geschichte
Wie verhält sich wohl ein Mädchen, das Kakteen liebt, wenn es nach der Scheidung der Eltern mit der Mutter zu Oma ziehen muss und sich mit dem neuen Freund der Mutter konfrontiert sieht? Lauschen wir mal!
Darum geht es
Lucinda, genannt Lu, muss mit ihrer Mutter zu Oma Käthe aufs Land ziehen und darauf hat sie gar keine Lust. Dass sich dort auch noch der neue Freund von Mama herumtreibt - er ist Landwirt -, gefällt ihr noch weniger. In der neuen Schule (sie kommt in die 6. Klasse) klappt es aber immer zumindest einigermaßen: Lucinda findet gleich am ersten Tag eine Freundin (okay, eine Feindin auch) und wirft ein Auge auf den Mitschüler Julian (der wiederum ein Buch nach Lucinda wirft). Dass es mit der neuem Umgebung und mit der ersten Liebe nicht so einfach werden wird, ist dem Hörer schnell klar. Lucinda auch.
Lese(t)räumchen meint
Am Anfang der Geschichte dachte ich: Okay, die wird bestimmt witzig und mindestens nett. Das Wort nett kommt denn auch am Anfang des Buchs sehr oft vor. Da wird nett gegrüßt, nett gelächelt und der Nachname der Klassenlehrerin klingt - ich hatte ja ausschließlich das Hörbuch - wie das englische Wort für nett: nice.
Aber leider wünscht sich Lu nicht nur, wie ein Kaktus aus ihrer Sammlung zu sein. Sie ist einer bzw. sie verhält sich wie einer: Immer und überall fährt sie ihre Stacheln aus, ist dauergenervt, widerborstig und manchmal geradezu aggressiv in Verhalten und auch Sprache (dadurch wirkt sie mehr wie ein gestandener Teenager denn wie eine Sechstklässlerin). Angriff scheint für sie die beste Verteidigung zu sein.
Das kann man so machen - die Figur Lu hat einfach keine andere Verhaltensoptionen -, aber es bereitet beim Anhören nicht so richtig Spaß. Und es hat dafür gesorgt, dass ich Lucinda - bei allem Verständnis für ihre schwierige Lage - überhaupt nicht liebgewinnen konnte, was mir dann schon wieder richtig leid getan hat (ich sympathisiere sonst immer mit denen, die es schwer haben). Man kann auch Lucindas emotionale Fallhöhe nicht konkret einschätzen, weil man im Hörbuch kaum etwas über ihr Leben vor dem Umzug erfährt.
Oma Käthe, bei der Lu und ihre Mutter nun wohnen, hat einen Eso-Touch und erklärt Lucinda einmal deren indigoblaue Aura: Das Mädchen sei ein sehr empathischer Mensch. Aber dafür liefert die Geschichte leider keine Beweise. Lu ist so in ihren Stachel-Kokon verbarrikadiert, dass man sie nur auf sich fixiert erlebt, gefangen in ihrem Groll gegenüber den Veränderungen in ihrem Leben.
Dann ist da neben dem Feindbild, das der neue Freund der Mutter verkörpert, noch das der großgewachsenen Mitschülerin Isa, von Lu "das Monster-Mädchen" genannt, die unglaublich fies, aggressiv und auch noch gewalttätig gegenüber Schwächeren ist. Puh! Und natürlich findet Lu auch die neue Frau an der Seite ihres Vaters total doof.
Klar werden Geschichten vor allem durch Konflikte interessant und ich habe vielleicht auch einfach nur ein paar zu viele von diesen "Wie verjage ich den neuen Partner meiner Mutter/meines Vaters?"-Storys gelesen/gehört. Man kann natürlich eine Figur so widerspenstig zeigen (ich habe als Kind ja auch "Hanni und Nanni sind immer dagegen" gelesen ;)), aber wenn man es tut, dann sollte als Gegenpol mindestens eine liebevolle Verbindung auftauchen, finde ich.
Die fehlt mir hier. An der etwas verpeilten Mutter ist an sich nichts auszusetzen, außer, dass man auch von ihr zu wenig erfährt, um sie zu mögen, aber vor allem spüre ich keine allzu tiefe Verbundenheit zwischen Mutter und Tochter. (Ich wollte mir die Geschichte noch ein zweites Mal anhören, um zu prüfen, ob ich sie dann anders höre und verstehe oder ich beim ersten Mal etwas verpasst hatte. Aber ich kam nur bis zur Mitte, dann ging mir die genervte Lu zu sehr auf den Senkel).
Natürlich löst sich am Ende alles auf, alle Missverständnisse werden geklärt und man nähert sich der neuen Situation und einander vorsichtig an. Aber ich fand den Weg bis dahin so struppig, dass
ich das Happy End gar nicht wirklich annehmen konnte. Zu wahrscheinlich erscheint mir, dass Lucinda beim nächsten Problem wieder ihre Stacheln ausfahren wird.
Fazit
Julia Nachtmann liest die rotzig-trotzig-genervte Lucinda sehr überzeugend, verstärkt aber damit automatisch das, was mir an der Geschichte selbst schon nicht gefallen hat. Vielleicht habe ich auch nur aufgrund des originellen Titels und schönen Titelbilds einfach etwas anderes - mehr Witz, mehr Leichtigkeit - erwartet.
Ein wichtiger Hinweis allerdings noch: Es handelt sich hier um eine gekürzte Fassung der Geschichte fürs Hörbuch. Es ist also durchaus möglich, dass Zwischentöne und leisere Passagen des Buches (die der Geschichte und den Figuren Tiefe geben, aber die Handlung nicht direkt voranbringen) einfach der Streichung zum Opfer gefallen sind. Wäre nicht das erste Mal.
Wenn ich das Buch mal in die Hände bekomme, werde ich auf jeden Fall reinlesen und das überprüfen.
Falls von euch jemand schon das Buch gelesen hat, würde ich mich freuen zu hören, wie die Figuren und die Geschichte dort auf euch gewirkt haben.
Steckbrief
Ich wollt, ich wär ein Kaktus
Mina Teichert
Gekürzte Lesung von Julia Nachtmann
Umfang: 2 CDs (152 Minuten)
Preis: ca. 10 Euro
Verlag: Hörbuch Hamburg/Silberfisch
Altersempfehlung des Verlags: ab 10 Jahre
Erscheinungstermin: 31.01.2018
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Paula Ludin (Montag, 09 März 2020 16:06)
Das Buch hat mir so gut gefallen, dass ich es meiner Klasse bei der Buchpräsentation vorgestellt habe.