GEHÖRT | Isabel Abedi: Die längste Nacht

Die Macht des Erzählers

Was wäre, wenn du mit 17 erfährst, dass dein bisheriges Leben auf einer Lüge aufgebaut war? Einer Lüge, die dir deine Eltern aufgetischt haben, in der Annahme, es sei die Wahrheit?

Darum geht es

Vita hat gerade das Abitur gemacht und macht sich nun mit ihren beiden besten Freunden, dem einfühlsamen Danilo und der lebhaften Trixie, zu einer neunwöchigen Europareise im VW-Bus auf.

 

Das Verhältnis zu ihrem Vater ist ganz gut, das zur Mutter desolat, weil lieblos und distanziert. Seit Vitas große Schwester Livia vor 13 Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam, findet Vita keinen Halt mehr in dieser Familie, erlebt nur ein kühles, gut organisiertes Aneinandervorbeileben.

 

Umso mehr freut sich Via auf die grenzenlose Freiheit, die die bevorstehende Reise verspricht. Danilo, Trixie und Vita machen sich zunächst auf den Weg nach Italien. Im kleinen Örtchen Viagello treffen sie den sympathischen Seiltänzer Luca, der ihnen anbietet, auf seinem Grundstück zu campen.

 

Dort findet der bis dahin fröhliche Roadtrip für Vita ein unerwartet frühes Ende. Und doch beginnt ihre Reise erst – die Reise in ihre Vergangenheit nämlich. Denn Lucas Familie reagiert äußerst merkwürdig auf Vita, sie selbst hat seltsame Déjà-vus, ihr Asthma plagt sie mehr denn je – wie ein unbeschwerter Urlaub fühlt sich das wahrlich nicht mehr an, viel zu beängstigend erscheint ihr alles hier.

 

Und doch weiß sie, dass sie bleiben muss. Weglaufen gilt nicht. Nicht nur, weil zwischen Vita und Luca von der ersten Begegnung an eine unerklärliche, tiefe Verbundenheit da ist und sich schnell eine zarte Liebesgeschichte entwickelt. Vor allem entfaltet sich langsam, sehr langsam, ein abgründiges Geheimnis, das Lucas und Vitas Familien untrennbar verbindet. Ein großes Knäuel aus Schweigen und Lügen kann nach und nach entwirrt werden, in vielen überraschenden Wendungen, die wieder alles infrage stellen, was man bis dahin als enttarnt geglaubt hatte.

Lese(t)räumchen meint

Kann man die Erinnerungen von Menschen manipulieren?

 

Was geschehen ist, kann man nicht mehr ändern. Aber was davon nach außen dringt und sogar, woran sich die Beteiligten erinnern sollen, das kann gezielt gesteuert werden – wenn man es schlau anstellt. Und das tut er, der Drahtzieher in dieser Geschichte. Wer das ist, versteht man erst sehr spät und das macht die Story über das eigentliche Drama hinaus außergewöhnlich und spannend.

 

"Die längste Nacht“ ist eine toll konstruierte, fein gesponnene Geschichte über Liebe, Tod, Schuld und Lügen, getragen von sorgsam gewählter, sehr bildhafter Sprache.

„Es fühlte sich an, als würde eine innere Sonne auf Stellen leuchten, die immer im Schatten gelegen hatten.“

Atmosphäre und Handlungsorte sind liebevoll detailliert und plastisch geschildert, sodass man sich beim Zuhören mittendrin fühlt. Aus Vitas Sicht taucht man ein in das dunkle Geheimnis, das ihre und Lucas Familie für immer eint, ob es die Beteiligten wollen oder nicht. Sie wollen nicht, ganz und gar nicht. Vitas Erscheinen reißt Wunden auf, die in 13 langen Jahren nur oberflächlich verheilt waren, und lässt alte, mäßig gute Lügen auffliegen.

 

Das zu begleiten, ist spannend und mitreißend. Und wenn sich die Puzzleteile nach langen Phasen verträumter Erzählungen über Vitas und Lucas Liebesgeschichte auf einmal Schlag auf Schlag zusammenfügen (oder so tun, als ob), muss man konzentriert zuhören, um am Ball zu bleiben. Denn dann geht’s flotti: viele Namen, viele Überraschungen, viele Erklärungen. Wenn verloren geglaubte Erinnerungen die verwirrte Vita umtosen wie ganze Wasserfälle, hofft man mit ihr auf die erleichternde Auflösung aller Rätsel. Doch die lässt auf sich warten.

 

Unterbrochen wird die von Vita erzählte Geschichte von wenigen, kurzen Tracks, in der ein geheimnisvoller Mann – ein Autor – zu Wort kommt und dem Hörer neue Rätsel aufgibt. Wer ist er, was hat er mit all dem zu tun?

 

Beim Zuhören erinnert man sich nun daran, dass Vita ein Vierteljahr vor ihrer Abreise einen Blick auf das neueste Buchmanuskript eines weltweit erfolgreichen Autors im Arbeitszimmer ihres Vaters, eines Verlegers, erhascht hat. Irgendetwas daran hatte sie auf unerklärliche Weise berührt. Und irgendetwas daran hatte ihren Vater sehr aufgeregt. Doch was soll das mit ihr zu tun haben? Man kommt nicht drauf und lauscht gespannt weiter.

Nach einem sehr dramatischen Showdown in Viagello scheinen endlich alle Fragen rund um Livias viel zu frühen Tod geklärt und alle bisherigen Vermutungen wurden erneut über den Haufen geworfen.

 

Und dann kommt er nochmal ins Spiel: der eigentliche Hauptdarsteller, der Drahtzieher, der auf den Nachhall der „längsten Nacht“ so viel Einfluss genommen hat, viel mehr, als ihm zugestanden hätte. Seine Motivation und die Tragweite seines Handelns, die versteht man erst ganz am Schluss. Und muss dann erneut die Geschichte rückwärts durchdenken und für sich umschreiben.

 

Diese – zunächst kaum wahrnehmbare – Klammer um den ausführlich erzählten Plot fand ich sehr faszinierend. Diese Frage, inwieweit sich jemand auf die Leben anderer Einfluss nehmen, ja, sie manipulieren darf. Und ob es Gründe gibt, die dieses Vorgehen eventuell moralisch rechtfertigen könnten.

Was mir nicht so gut gefiel:

Für mich hätte die Geschichte nach dem Showdown und dem letzten Part des Autors zu Ende sein können. Dass noch mehr aufgedeckt wird, wird aber alle freuen, die gern sämtliche Fragen beantwortet und Hintergründe erklärt wissen.

 

Vitas Freudin Trixie hat teilweise eine so unsensible, nervige Art, dass es mir unglaubwürdig erschien, dass sie mit der empfindsamen Vita so gut befreundet sein soll und dass der sensible Danilo seit Jahren ihr Freund ist. Und die häufigen Schilderungen von Lucas abgekauten Fingernägeln – dazu auch noch mit vielen identischen Formulierungen - fand ich unnötig und ziemlich eklig.

 

Ich bin bestimmt nicht unromantisch, aber die Entwicklung der Liebesgeschichte ist schon sehr, sehr ausführlich geschildert. Phasenweise wird man Zeuge jedes Blickes, jedes Atemzugs, jedes Gedankens von Vita, während der spannende Teil der Geschichte, das Familiengeheimnis, in den Hintergrund rückt. Das stört sicher nicht jeden, führt mich aber zum Thema ...
  
... „Die längste Nacht“ als Hörbuch:

Als Hörbuch-Lauscher liefert man sich dem Autor und seinem Erzähltempo noch viel mehr aus, als man das beim Lesen des Buches tut: da gibt es kein Überfliegen von Seiten und auch kein Zurückblättern zu vorherigen Kapiteln. Deshalb gut aufpassen, wenn die Beziehungen zwischen den einzelnen Personen erwähnt werden. Die sind wichtig!

 

Isabel Abedi, die Autorin, liest ihre Geschichte mit viel Gefühl und Hingabe, so wie man es sich wünscht, und gibt allen Figuren den richtigen Ausdruck. Besonders gut hat sie mir als kecke kleine Feli gefallen.

 

Zehn der 130 Tracks des Hörbuchs gehören dem geheimnisvollen Bestsellerautor, der das Buch „Die längste Nacht“ verfasst hat, mit dem die Geschichte überhaupt erst ins Rollen kam. Er wird von Andreas Steinhöfel gesprochen, bekanntlich selbst Bestsellerautor. Auf jeden Fall eine gute Wahl, denn er liest sehr intensiv und auf seine ganz spezielle Weise rhythmisch, was Spannung aufbaut und das Geheimnisvolle der Figur noch verstärkt.

 

Bemerkung am Rande: Trotz der gleichberechtigten Nennung der beiden Sprecher auf dem CD-Cover ist ihr Anteil am Hörbuch doch deutlich ungleich: ca. 25 Minuten Steinhöfel zu ca. 600 Minuten Abedi. Es ist also eher „Isabel Abedi feat. Andreas Steinhöfel“. :)

 

Auf der Facebook-Seite von Hörbuch Hamburg gibt es übrigens ein paar schöne Fotos aus dem Studio von den beiden. Klicken und sehen!

  

Fazit

Man kann dem Hörbuch „Die längste Nacht“ lauschen (gerne auch mehrmals) und dabei eine fesselnde Story um die erste große Liebe um und düstere Familiengeheimnisse durchleben. Und man kann es zusätzlich als ein cleveres Buch im Buch auffassen, das beweist, wie mächtig der Erzähler einer Geschichte ist. Oder in diesem Fall die Erzählerin, Isabel Abedi.

Steckbrief

"Die längste Nacht"

Isabel Abedi

Ungekürzte Lesung mit Isabel Abedi und Andreas Steinhöfel

 

Umfang: 2 mp3-CDs, 626 Minuten Laufzeit

Preis: 19,99 €

Verlag: Hörbuch Hamburg/Silberfisch

Erscheinungsdatum: 27.05.2016

Altersempfehlung des Verlags: ab 14 Jahren


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